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8. Februar 2015 | Alex
Lawinen: ganze statt halbe Wahrheiten vom Experten
Mit dem Touren ist es ein bisschen wie mit der Liebe: Man gerät in Wallungen, läuft Gefahr, mitgerissen zu werden, und kriegt jede Menge Gerüchte darüber zu hören. Im Interview räumt der SLF-Lawinenforscher Stephan Harvey mit Halbwissen zu Lawinen auf, gibt Expertentipps zum Touren und prognostiziert, inwiefern wir angesichts des Klimawandels auch im Jahr 2050 noch Tiefschneelinien werden fahren können.
Lawinen: gefürchtet, verharmlost, mystifiziert. Foto: Thomas Stucki, SLF
Herr Harvey, Sie sind Lawinenexperte am Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF in Davos. Zudem sind Sie Bergführer und als solcher oft in alpinem Gelände unterwegs. Sind Sie selbst schon einmal in eine Lawine geraten?
Stephan Harvey: Ich wurde auch schon von kleinen Lawinen erfasst und bis auf Kniehöhe verschüttet – zum Glück nie schlimmer.
Zum Thema Lawinen und Touren kursieren haufenweise Halbwahrheiten, bei denen man nicht genau weiss, ob sie wahr oder falsch sind. Darf ich beginnen?
Stephan Harvey: Ich bitte darum.
Falls man in eine Lawine gerät, sollte man Schwimmbewegungen machen, um an der Oberfläche zu bleiben.
Stephan Harvey: (lacht). Vergessen Sie das! Das ist ein alter Zopf. Man hat keine Chance, mit Brustschwummbewegungen obenauf zu schwimmen. Natürlich sollte man durch geschickte Tourenplanung und Anpassungen im Gelände verhindern, dass man in eine solche Lage gerät.
Wenn diese missliche Lage aber doch eintritt, gäbe es – so wird gemunkelt –trotzdem einen Ausweg. Und zwar so: "Wenn du merkst, dass sich eine Lawine löst, stell dein Board gerade und fahr der Lawine einfach davon." So machen es auch die Profis in den Snowboard- und Skifilmen.
Stephan Harvey: Als erste Reaktion ist dies ein guter Ansatz. Das Davonfahren ist allerdings nicht so einfach und gelingt selten. Es braucht dazu viel Glück und sehr gutes Fahrkönnen. Zu glauben, dass man, sobald eine Lawine kommt, einfach herausfahren kann, ist kein besonders guter Plan. Die Chancen, so davonzukommen, stehen schlecht.
Gelingt das Davonfahren nicht, sollte man die Stöcke wegwerfen und die Hände vors Gesicht bringen...
Stephan Harvey: ...das ist richtig. In der Lawine ist es wie in einer Waschmaschine. Der Schnee geht in die Atemwege. Diese sollte man so gut wie möglich schützen.
Nächstes Gerücht: Unter einer Lawine kann man ziemlich lange überleben, wenn man die richtige Kleidung trägt. Funktionale Kleidung schützt vor Erfrieren.
Stephan Harvey: Falsch. Erfrierungen sind das kleinere Problem. Die meisten Lawinenopfer sterben an Ersticken. Falls die Atemwege verstopft sind, dauert es 2-3 Minuten, bis man tot ist. Wenn die Atemwege frei sind, kann man bis zu einer Viertelstunde überleben. Erst bei genügend grossem Hohlraum kann man länger überleben. Andere Todesursachen sind Verletzungen. Diese passieren, wenn man irgendwo hinunterfällt, wenn Bäume oder Felsen im Weg sind. Der Zufall spielt dabei eine grosse Rolle.
Apropos Zufall: In Ski- und Snowboardfilmen fahren die Profis die steilsten Hänge hinunter. Auch im Internet sind solch radikalen Lines omnipräsent. Dabei hört man selten, dass etwas passiert. Haben diese Leute einfach nur Glück?
Stephan Harvey: Bei Filmproduktionen wird vor dem Dreh viel Zeit in die Vorbereitung gesteckt...
...aber es wird immer wieder gezeigt, wie die Pros vom Helikopter aus ihre Linie auswählen und sich auf dem Gipfel ihrer Wahl absetzten lassen.
Stephan Harvey: Nein, so läuft das nicht. Für die schönen Bilder wird viel vorbereitet. Die Schneedecke wird genau analysiert, um zu beurteilen, ob der Hang wirklich fahrbar ist. Oft werden die Hänge auch gesprengt. Das wird professionell gemacht. Trotzdem geht auch bei Filmproduktionen mal etwas schief und es kommt zu Lawinenniedergängen. Diese Szenen zeigt man dann aber nicht im Film. Viele Filmclips von Lawinen entstehen auf diese Weise. Auch das SLF verwendet diese zu Schulungszwecken.
Nicht nur bei den Profis sondern auch bei den Hobby-Tourengängern ist die Vorbereitung das A und O, um im Tiefschnee Spass zu haben. Angenommen jemand hat schon ein paar geführte Touren gemacht und möchte jetzt mit Freunden auf eigene Faust losziehen. Was empfehlen Sie dieser Person?
Stephan Harvey: Falls ein Unerfahrener eine Tour plant, muss er zuerst einmal Karten lesen können und die fünf Gefahrenstufen kennen. Er muss das Lawinenbulletin konsultieren und eine Tour auswählen, welche zu seiner Situation passt.
Konkret?
Stephan Harvey: Ein Anfänger soll Touren planen, die unter 30 Grad steil sind, und bei Gefahrenstufe „gering“ oder „mässig“ unterwegs sein. Dann ist er auf der sicheren Seite. Bei „erheblich“ braucht es mehr Erfahrung. Da besteht die Gefahr von Fernauslösungen. Wer bei solchen Situationen touren gehen möchte, dem empfehle ich, einen 2-3-tägigen Lawinenkurs zu besuchen. Ein paar mal bei einer Tour mitgegangen zu sein, reicht dafür nicht aus.
Wie kann man beurteilen, ob ein Hang steiler als 30 Grad ist?
Stephan Harvey: Es gibt Hangneigungskarten, bei denen die Hänge, die steiler als 30 Grad sind, eingefärbt sind. Mit solchen Karten kann man seine Route genau planen. Am besten zeichnet man seine Tour gleich selbst auf einer 1:25'000-Karte ein. Am einfachsten geht das auf der Onlineplattform whiterisk.ch, die das SLF vor einem Jahr entwickelt hat. Damit schlägt man übrigens gleich zwei Fliegen mit einer Klappe.
Wie meinen Sie das?
Stephan Harvey: whiterisk.ch ist ein interaktives Tool, mit dem man einerseits Touren planen und die Karte anschliessend als PDF ausdrucken und aufs Handy laden kann. Andererseits kann man sich damit umfassendes Lawinenwissen auf interaktive Art und Weise aneignen. Während der Planung wird man immer wieder darauf hingewiesen, welche Faktoren man zu beachten hat. Eine Jahreslizenz kostet 29 Franken.
Gekauft. Das Touren erfuhr in den letzten Jahren einen enormen Boom. Immer mehr Menschen suchen das Naturerlebnis abseits der Pisten. Auf Modetouren an schönen Wochenenden sind manchmal hundert Leute am Berg. Warum passieren nicht mehr Lawinenunfälle?
Stephan Harvey: Das hat wohl auch damit zu tun, dass die Informationsmöglichkeiten und die Qualität der Informationen viel besser geworden sind. Im Winter publiziert das SLF täglich zwei Lawinenbulletins. Die Leute haben mehr Lawinenwissen. Auch die Ausrüstung ist besser geworden.
Das Touren ist also zu einer sicheren Sportart avanciert?
Stephan Harvey: Was heisst sicher? Wenn man ins winterliche Gelände hinausgeht, ist man nie hundertprozentig sicher. Auch wenn die Gefahrenstufe tief ist und man seine Tour gut geplant hat, kann es sein, dass man eine Lawine auslöst, wenn es dumm läuft. Ein Restrisiko besteht immer. Wer null Risiko eingehen möchte, ist gut beraten, auf der Piste zu bleiben. Wer aber seine Ausflüge seriös vorbereitet und im Gelände die Gefahrensignale zu lesen weiss, kann das Risiko klein halten.
Lassen sie uns zu den Gerüchten zurückkehren und in die Zukunft blicken. In der Tourencommunity geht das Gespenst um, dass wir aufgrund klimatischer Veränderungen in 30 Jahren kaum mehr auf den heutigen Routen unterwegs sein werden. Was ist da dran?
Stephan Harvey: Ich bin kein Klimaexperte. Wenn man aber das heutige Bild der Gletscher vergleicht mit jenem vor 40 Jahren, dann sieht man gewaltige Unterschiede. Falls wir davon ausgehen, dass das Klima sich erwärmt, hat das auch einen Einfluss auf die Schneedecke. Die Schneegrenze wird sich nach oben verschieben und die Gletscher werden weiter zurückgehen.
Bitte wagen Sie eine Prognose. Werden wir im Jahr 2050 noch mit Schneeschuhen und Fellen auf Alpengipfel steigen und im Tiefschnee ins Tal brettern?
Stephan Harvey: Davon bin ich überzeugt. Es wird dann sicher seltener werden, dass man unterhalb von 1000 m Skifahren kann. Innerhalb eines Winters schwanken die Bedingungen allerdings stark. Mal hat es viel Schnee, mal wenig. Mal hat es viel Wind, mal viel Sonne. Die Variationen sind so gross, dass sich der Einfluss des Klimas auf Tourenaktivitäten nicht festmachen lässt. Klimaveränderungen erstrecken sich über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg. Auch im Jahr 2050 werden die Berge im Winter schneebedeckt sein.
Stephan Harvey, fotografiert von Marc Weiler, SLF
Stephan Harvey ist Lawinenexperte am WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF in Davos. Er ist Koautor des Buchs «Lawinenkunde», das als Standardwerk unter den Praxisratgebern gilt, und ist Autor und Projektleiter der Onlineplattform whiterisk.ch.